Wenn jemand eine Reise tut, So kann er was erzählen; Drum nahm ich meinen Stock und Hut Und tät das Reisen wählen. Matthias Claudius 1740-1815 Urians Reise um die Welt
Mit diesem Wort (Ich habe gehört) beginnen viele mittelalterliche Texte in Chroniken oder anderen Aufschriften. Die Reiseliteratur entstand, als jemand begann die Geschichten aufzuschreiben, die man sich abends am Feuer erzählte. Die Geschichten über Odysseus gehörten sicher dazu. Geschichten zu erzählen und zu hören ist bis heute eines der Hauptmotive, dass sich Reisende treffen, unterwegs sowieso, aber auch zwischen den Reisen. Umgekehrt bildet Reiseliteratur heute eine wesentliche Quelle für mündliche Erzählungen. 1)
Reiseerzählungen und Reiseberichte bilden den subjektiv-imaginierten wesentlichen Kern der Reiseliteratur; Landes- und Völkerkunden sind gesellschaftliche Konstrukte auf wissenschaftlicher Basis; * Reiseführer, Karten und Apodemiken bilden objektiv-nützliche Kategorien von Reisebüchern.
Reisen & Lesen befruchten einander seit jeher. Die Kunde über die Erlebnisse von Held, Abenteurer und Reisenden prägte die literarischen Formen Epos, Roman, Reisebericht.
Laurence Stern
mokiert sich als »empfindsamer Reisender« bereits 1768 darüber 2). Michael Homberg
, Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt, 1870-1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017Ich bin nicht Ich Am 29. Dezember 1951 bricht Ernesto Che Guevara mit seinem Freund Alberto Granado und dem Hund »Comeback« zu einer Motorradreise durch Südamerika auf. Sie starten in Buenos Aires, fahren nach Süden, durchqueren den Kontinent und erreichen die berühmte Straße »Latinoamericana«. Im Sommer des nächsten Jahres sind sie wieder zu Hause. Der dreiundzwanzigjährige Che Guevara hat seine Erlebnisse, Begegnungen und Eindrücke in einem Tagebuch festgehalten und später ergänzt: »Die Person, die diese Notizen schrieb, starb, als sie ihren Fuß wieder auf argentinischen Boden setzte, und der sie ordnet und an ihnen feilt, >ich<, bin nicht ich; zumindest bin ich nicht mehr dasselbe innere Ich. Dieses ziellose Streifen durch unser riesiges Amerika hat mich stärker verändert, als ich glaubte«, schreibt er.
Der Reisebericht mit seinen Übergangsformen fristet im Reisealltag ein Nischendasein:
Den größten Marktanteil hat heute das beratende Reisebuch: der Reiseführer in allen seinen Formen, Kartenwerke, reisetechnische Tipgeber, Sprachführer … Diesen objektivierten Reisebüchern ist das subjektive individuelle Erleben genremäßig ausgetrieben.
Das reisetechnische Know-How bedarf mindestens bei der Ankunft im Reiseland, bei der ersten Begegnung mit fremden Völkern grundlegender Informationen über Länder & Völker. Was darüber hinaus geht, findet sich in der volks- und landeskundlichen Fachliteratur. Bibliographien fassen den Bestand länderkundlicher oder reisegeschichtlicher Literatur zusammen.
Der Reisende bringt sich selbst in ein Dilemma. Für ihn ist es es wichtig, in welches Verhältnis er Schreiben und Reisen bringt:
Kann es noch authentische Reiseerlebnisse geben, wenn vorher feststeht, dass die Reiseerlebnisse in ein Buch einfließen sollen? Wäre dann nicht der * Flaneur der bessere Autor, weil er sich absichtslos der Welt öffnet, das erleben uninteressiert in sich einströmen lässt?
»Dabei aber gingen nicht sofort auch die Erzählungen selbst, jene Heldensagen zugrunde, die gleichsam die Seele dieser Völker, ihr Trank und ihre geistige Speise waren. Sie konnten nicht zugrunde gehen, weil diese Völker (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) abenteuerlich dachten und entweder gar nicht oder im Abenteuer lebten. Ein Volk, von wenigen, aber starken Begriffen und Leidenschaften geregt und getrieben, hat wenig Lust zu ordnungsmäßigen, gewöhnlichen, ruhigen Geschäften; es bleibt gegen sie kalt und träge. Dagegen flammet’s auf, wenn ein Abenteuer ruft, wenn wie ein Jagd- und Kriegshorn die Abenteuersage ertönet. In eingepflanzten Trieben, in angebornen Begriffen und Neigungen ging diese Liebe zum Abenteuer auf Geschlechter hinab; der geistliche Stand, in dessen Händen die Bildung der Menschen nach Begriffen der Zeit war, bemächtigte sich dieses Triebes; er fabelte, dichtete, erzählte.
Von Erzählungen fängt alle Kultur roher Völker an; sie lesen nicht, sie vernünfteln nicht gern, aber sie hören und lassen sich erzählen. So Kinder, so alle Stände, die, insonderheit unter freiem Himmel, ein halbmüßiges Leben führen. Wo sie auch leben, Norweger und Araber, Perser und Mogolen, der Gote, Sachse, Frank und Katte des Mittelalters, noch jetzt alle halbmüßige Abenteurer, Krieger, Jäger, Reisende, Pilger haben hierin einerlei Geschmack, einerlei Zeitkürzung Unwissenheit ist die Mutter des Wunderbaren, unternehmende Kühnheit seine Ernährerin, unzählige Sagen seine Nachkommenschaft und ihr großer Mentor der Glaube. Wenn Mönche dergleichen Erzählungen in ihre Chroniken aufnahmen und ihre Legenden selbst darnach schrieben, so taten sie es nicht immer aus Lust zu betrügen. Es war Geschmack und sogar Kreis des Wissens, Denkart der Zeit; eine echte Mönchschronik mußte vom Anfange der Welt anfangen und in bestimmten Zeiträumen durch Fabel und Geschichte der Griechen und Römer (Geschichte und Dichtung auf einem Grunde betrachtet) bis zum Ende der Welt fortgehn; das war der gegebene Umriß. Eben nach den Begebenheiten der Zeit, die allesamt geistliche und weltliche Abenteuer waren, formte sich der Umriß der Erzählung, bildete sich der Ton des Ganzen. Mehr als eine Chronik der mittleren Zeiten ist wie ein zyklisches Gedicht zu lesen.
Wenn aber und wie wird aus diesen vermischten Sagen und Abenteuermärchen so verschiedner Völker in so verschiednen Gegenden und Umständen eine »Ilias,« eine »Odyssee« erwachsen, die allem gleichsam den Kranz raubte und jetzt als Sage der Sagen gelte?«
Johann Gottfried Herder
: Briefe zur Beförderung der Humanität
siehe auch
* Was ist Reisen?
* Literaturliste zur Reiseliteratur
Richard Kapuscinski Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies Reportagen, Essays, Interviews aus vierzig Jahren Wolfgang Hörner (Hrsg.), Aus dem Polnischen von Martin Pollack Berlin: Eichborn 2000. Pappband mit Umschlag: 315 S. Richard Kapuscinski Die Welt im Notizbuch Aus dem Polnischen von Martin Pollack Frankfurt am Main:Eichborn 2000. Pappband 12x21 cm: 335 S.
1999 wurde Richard Kapuscinski zum Polnischen Journalisten des Jahrhunderts gewählt; bei Eichborn erschienen zuvor bereits fünf Titel von ihm, dann noch einmal fünf Titel. Dem Verlag ist ein Erfolgsautor, dem Autor der Erfolg zu gönnen.
Jeder Journalist ist ein Vermittler zwischen der Realität (Was ist wahr?) und dem, was die Leute hören wollen (Anderes wird nicht verkauft). RK bringt dafür ganz besondere Qualitäten mit; auf dem Waschzettel von Eichborn steht »Die Quelle seiner Inspiration ist das Reisen.« 1957 fuhr RK zum ersten Mal nach Afrika, dann ließen ihn der Kontinent und seine Menschen nicht mehr los. Als Korrespondent der polnischen Nachrichtenagentur PAP machte er den Mangel an Geld durch Einfühlungsvermögen und Mut mehr als wett. Seine Nachrichten sind geprägt von persönlichen Erfahrungen und dadurch menschlich. Obwohl sein Beruf verlangt, Distanz zu wahren, sucht er die intensive Nähe, Bodenberührung, taucht ein in die örtlichen Verhältnisse, zuckt nicht zurück vor Krankheiten und Tieren, Elend und Schmutz, Entbehrung und Krieg.
Ich kenne keinen anderen Autor, der es geschafft hat, Afrika so richtig zu erfühlen und so genau zu beschreiben. Immer, wenn ich von meinen afrikanischen Begegnungen erzähle, gerate ich ins Stocken, finde keine passenden Begriffe, will auch nicht die alten Klischees wiederholen, auch wenn sie zu passen scheinen. RK hat es geschafft, die Worte zu finden, das Besondere der Menschen, Kulturen, Länder Afrikas liebevoll zu zeigen, ohne den Alltag zu beschönigen oder zu romantisieren. Afrikanisches Fieber ist genau das richtige Buch, eine Afrikareise vor- oder nachzubereiten.
»Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies« zeigt RK nicht nur in Afrika, sondern auch in Polen, Lateinamerika, im Iran, Westeuropa, Amerika und in der Sowjetunion. Und er reflektiert über Heimkehr und Schreiben und Einsamkeit – weshalb eigentölich nicht über das Reisen? Denn hier schreibt wirklich einer, der das Reisen im Blut hat, vielleicht ist es ihm deshalb so selbstverständlich.
Das Metier RKs ist durch den verfügbaren Raum auf Zeitungsseiten geprägt. Ein Essay, ein Reportage mögen mal länger sein, doch seine Kunst ist nicht scheinbare Objektivität des Fotorealismus, sondern das Gestalten durch Weglassen. So füllt sich ein Notizbuch mit sprachlichen Pretiosen: kurzen Einfällen, einer gefälligen Formulierung, Umrissen, Schnappschüssen, … Für deren Schöpfer ist es Fundgrube. Doch damit ein Buch zu füllen? Keine Klammer verbindet diese vielen hundert Schnipsel thematisch, keine Chronologie zeigt Entwicklungen, kein Register erschließt es und so hüpft das Hirn mit verbundenen Augen von Absatz zu Absatz und tastet sich an deren Rändern entlang, planlos.